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- Veröffentlicht: 13. Mai 2009
Wenn ich die Anderswelt besuchen möchte, dann muss ich bloß einen Fuß über den Zaun heben und bin da. Es hilft, die Augen zu schließen und Geräusche abzuschirmen, denn unsere täglich über die Maßen beschäftigten Sinne drängen sich gerne in den Vordergrund. Es passiert aber schon mal im größten Trubel und es ist nicht immer schön, gefragt zu werden, wieso man soeben mit glasigen Augen mitten im Raum stehengeblieben ist.
„Was machen Sie da?“
„Ich denke nach.“
„Worüber?“
„Den Weltfrieden?“
„Macht es Ihnen etwas aus, das woanders zu machen?“
„Wieso?“
„Ich müsste mal an den Kopierer.“
So etwas passiert mir häufig.
Früher hatte ich Schwierigkeiten, zu begreifen, wie das gehen soll, in beiden Welten zu wandeln. Aber je öfter man es übt, desto selbstverständlicher balanciert man auf besagtem Zaun herum. Nur den Ort und die Zeit kann ich nicht beeinflussen. Wieso das wichtig wäre, will ich hier erzählen.Als pragmatisch-analytische Heckenhexe muss ich natürlich darauf hinweisen, dass es nicht geht, den Körper mit rüber zu nehmen, der bleibt fein da. Im Optimalfall liegend, sonst kann es unangenehm werden. Es ist das, was ich den Avatar nenne, über den man die Kontrolle übernimmt. Dieser ist normalerweise eins mit dem Körper, kann sich aber für unsere Zwecke verselbständigen.
Spannend ist die momentane Entwicklung im Cyberspace. Die Grafiken und Steuerungen werden immer realistischer, so dass es einfacher wird, auch ohne jede Übung und Anstrengung das Gefühl zu erleben, einen Avatar außerhalb seines Körpers zu lenken. Millionen Menschen wuseln in WoW oder Second Life rum.
Ich bin ein Oldschool-Playa, mir ist das zu hektisch, aber aus unserer Gesellschaft ist diese dritte Welt bald nicht mehr wegzudenken. Im Grunde ist die Funktion dieselbe wie bei der Traumreiserei. Allerdings ist die Optik vorgegeben und man braucht Peripheriegeräte zum Steuern. Die Cyberwelt ist für Einsteiger einfacher, für Fortgeschrittene umständlich.
Ich träume viel, wenn ich schlafe, obwohl das sehr abhängig ist vom Mond- und meinem Intoxikationszustand. Über die Jahre hinweg haben sich meine Träume vereinheitlicht. Die Orte und Handlungen, sowie mein Aussehen sind immer öfter gleich: die Stadt, die Straßen, die Zimmer, die Menschen, selbst das Licht ähneln sich ein ums andere mal. Züge, Schiffe und Soldaten kommen oft vor. Obwohl ich das im Grunde gar nicht fördere. Mein Beitrag, worauf ich stolz bin, ist, dass ich meistens einen Ausweg aus schwierigen Situationen finde. Ich verzweifle selten, sondern fliege, teleportiere, laufe weg oder wache auf. Ein paar Jahre lang hatte ich ein Schwert bei mir, aber darauf verzichte ich heutzutage.
Was meine Fähigkeit, mich an das Geträumte zu erinnern, massiv gefördert hat, war der Umstand, dass ich seit Jahren nicht mehr durchschlafe, weil immer irgendein Baby getragen, gestreichelt, zugedeckt oder getröstet werden will, so dass ich alle 2 Stunden aus dem Tiefschlaf erwache und demnach noch irgendwie drüben bin. Es ist mir auch gelungen, Träume fortzusetzen.
Gestern Nacht war ein klein wenig gruselig. Um 4 Uhr kroch ich gerade wieder zurück ins warme Ehebett, erschöpft von einer dramatischen Suche nach einem verschollenen Kuscheltier. Kaum hatte ich die Augen geschlossen, da begann ein Film, den ich schon erledigt wähnte.
Alles dunkel. Dunkel und grau. Ich trage einen schwarzen Anzug. Die Straße, deren Bürgersteig ich langgehe, ist regennass. Leute hasten an mir vorbei. Rechts von mir ist eine hohe Mauer und links eine durchgehende vierstöckige Häuserzeile. In einer Einfahrt sehe ich mein Auto, öffne die Tür, gehe die Treppen hoch ins Schlafzimmer und als ich die Decke zurückschlage, sehe ich die tote Frau. Ich erinnere mich.
(Das meine ich mit gruselig, denn hat sich schon mal wer im Traum erinnert? Normalerweise beginnt immer alles von vorne.)
Vor ein paar Tagen war ich an einem See, nahe der Stadt - nennen wir sie Gotham-Town - und sprang, wie so oft, von Laterne zu Laterne, flog über die große Eiche mit der Plattform, als ich die Tote am Rand des Sees sah. Sie lag mit dem Gesicht im Schlamm. Über die Todesursache machte ich mir keine Gedanken, nur dass ich nicht mit einer Leiche erwischt werden wollte.
(Ein kluger Taktiker war ich im Traum noch nie. Eher ein Macher als ein Denker.)
Damals war ich aufgewacht, bevor ich überlegen musste, wie es weitergehen soll. Jetzt aber stehe ich in einem Schlafzimmer und habe Angst, erwischt zu werden. Als letzter Ausweg fällt mir ein, meine Mutter anzurufen, die ist Pharmazeutin und ich brauche dringend eine Badewanne voller Säure. Sie nimmt die Situation erstaunlich gelassen hin, rät mir aber, die Polizei zu kontaktieren. Während ich die Treppen hinuntergehe, um ein anderes Telefon zu suchen, kommt mir meine Frau entgegen und möchte wissen, was da oben vor sich geht.
Ich brauche ein paar Minuten, um wieder rüberzuwechseln und den Wecker als solches wahrzunehmen. Erleichtert atme ich auf.
Hoffentlich gibt es keine Fortsetzung, ich fürchte aber doch. Hier schließe ich den Kreis zum Anfang dieses Eintrags: Sollte es im Schlaftraum die gleiche Welt sein, wie bei wachen Traumreisen, dann sollte ich wohl nicht warten, bis ich schlafe, sondern das im etwas bewussteren Zustand erledigen. Wie aber finde ich den Ort und die Zeit? Das ist mir bisher noch nicht gelungen. Einfach nur hin- und herzuwechseln, ist simpel. Zu simpel.