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- Veröffentlicht: 21. Dezember 2020
Jetzt ist es so weit. Ich sitze im letzten Zug in Richtung zu Hause. Es war eine lange und beschwerliche Reise. Heute ist der dritte Tag seit ich Irland verlassen habe und ich konnte endlich die Grenze zu Deutschland überqueren.
Warum ich nicht geflogen bin?
Ja, das wäre einfacher gewesen.
Anstatt 72 Stunden unterwegs zu sein, nur 8 Stunden und 50 Euro statt 400, die mich die Reise jetzt gekostet hat.
Ich hatte es versucht, aber alle Flüge, die ich in den letzten Monaten gebucht hatte, wurden abgesagt. Bei drei verschiedenen Airlines reservierte ich mir an ebenso verschiedenen Terminen einen Platz, doch immer kam mir ein Lockdown oder Verschärfung in irgendeinem Land dazwischen. Es wird überdeutlich, wie planlos und erratisch die Regierungen weltweit agieren, so dass man sich auf nichts verlassen kann und kein konsequentes Ziel in Aussicht steht. Weder bekommen sie den Covid19-Virus in den Griff, noch geben sie der Bevölkerung eine Perspektive. Es wird alles nur ausgesessen und gehofft, dass man sich demnächst nicht mehr damit beschäftigen muss.
Und weil ich eben niemandem und nichts vertrauen kann, habe ich meine Reise nach der Entlassung aus der Inselfestungshaft streckenweise gebucht. Dabei verließ ich mich auf Schiff und Zug, also Verkehrsmittel, die bisher noch immer fuhren.
An einem frühen Donnerstag morgen saß ich in Cork auf meinem Bett in der Zelle, die ich nun endlich für immer verlassen durfte, neben mir ein 30 Kilogramm schwerer Rollkoffer, ein Rucksack mit dem ganzen wichtigen und elektronischen Zeug und der Rest in zwei Tüten. Licht aus, ein Blick zurück und hinein in die feuchtkalte irische Nacht. Ich musste zuerst mit all meinem Graffl die ganze Stadt zu Fuss durchqueren, um zum Bahnhof zu kommen. In Cork ist der am Rande der Innenstadt am Binnenhafen gelegen.
Zum Glück regnete es nicht, denn auch so war der Tripp (wenigstens immer bergab) wegen dem schweren Rollkoffer (ein Wort, das in diesem Reisebericht SEHR oft vorkommen wird) auf dem unruhigen Pflaster mühsam.
Im Süden Irlands wird es im Winter nie wirklich kalt. Wegen dem Golfstrom hat es immer über 10°C. In meiner schweren Winterjacke, die ich in Anbetracht des kalten Wetters auf dem Festland tragen wollte, war mir dementsprechend sofort heiss. Aber wie so oft in den nächsten paar Tagen im Dezember auf dieser meiner Reise dachte ich mir: Egal, einfach weiter, einen Schritt nach dem anderen, bis es vorbei ist.
Die Hälfte meiner Zeit verbrachte ich mit Warten. Hinter der verpflichtend zu tragenden medizinischen Maske stand ich in den nächsten Stunden und Tagen an vielen Bahnsteigen und in Wartehallen herum und konnte Menschen beobachten, wie sie ihren Alltag begonnen und beendeten. Auch so hier am Bahnsteig, der mich nach Dublin bringen würde. Ebenso wie später in Paris musste ich auch in der irischen Hauptstadt zwischen zwei Bahnhöfen wechseln. Und immer folgte ich den Anweisungen der Auskunft: "Es ist ganz einfach - Du gehst nur geradeaus, steigst in die Tram/Metro und - voilà biste da"
Aber nichts war einfach. Es gab nirgendwo Schilder, die mich wiesen und so war ich immer auf die Kindness of Strangers angewiesen, mich zeitnah zum nächsten Punkt zu leiten. Dublin war ja noch einigermassen easy, wenn auch verwirrend, weil mir Dutzende vermummte Gestalten mit kaum zu verstehendem Englisch widersprüchliche Anweisungen gaben und der Bahnhof zur Fähre nach Rosslare im zweiten Stock eines Industriegebäudes total versteckt lag, aber auch da erwischte ich irgendwann den Zug, der mich die irische Ostküste am Meer entlang zum Hafen führen würde.
Ein Tag war damit vorbei, als ich nur das kurze Stück von Cork nach Rosslare gefahren bin (mit dem Auto maximal zwei Stunden Fahrt). Wieder saß ich in einer Wartehalle, alleine mit einer gelangweilten Hafenangestellten, einer händiguckenden Kaffeeverkäuferin und einem jungen Punk, der in eine alte Decke gehüllt auf den Sonnenaufgang wartete. Drei Stunden später durfte ich auf das Schiff. Wir waren bestimmt nicht mehr als 10 Passagiere auf die doppelte Menge Personal. Für knapp 60 Euro bekam ich sogar eine eigene Kabine mit Fenster.
Die nächsten 16 Stunden waren der angenehmste Teil der Reise. Der Seegang war zwar sehr unruhig, aber das macht mir nichts aus. Wir hatten WLan, Bars, Kino und alle Decks für uns alleine. Kaum begegnete ich irgendwelchen Menschen. Und als die Nacht vorüber war, genoß ich das milde Wetter und das weite Meer. Unglaublich, wie groß, wie episch gewaltig, das Meer ist. Wenn es sich auf und ab bewegt wie ein einziger Organismus, gebietet es Ehrfurcht. Uns begleiteten Delphine, die, wie ich einst las, die Schiffe verfolgen, weil die Schiffsschraube gratis Futter bereitstellt. Ein Photo von einem synchron springenden Delphinpaar war aber unmöglich zu machen, ich genoß einfach nur den Moment.
Irgendwann am Abend meines zweiten Tages dieser Odyssee (besser "Raphyssee") erschien dann die ersehnte Festlandsküste im Sonnenuntergang am Horizont. Endlich wieder Blick auf den Kontinent. Nie erschien die Normandie für mich in schönerem Licht.
Und dann begann der unangenehme Teil ...
Mit meinem Gepäck (Rollkoffer!) und maskiert fuhr mich ein eigener Busfahrer zwar aus dem Hafengelände hinaus, aber weiter kam ich nur zu Fuss. Ich wollte eigentlich nur ein Taxi nehmen, das mich in das gebuchte Hotel fahren würde.
Mir war nicht bewusst, dass es keine Taxis gibt. Jedenfalls nicht so einfach. Nachdem ich zwei Stunden durch Cherbourg geirrt war, im Regen (Ausrufezeichen! In meinen 14 Monaten in irischer Gefangenschaft hat es ungefähr 5 mal geregnet und ich kann vorgreifen, wenn ich sage, dass der Kontinent das in nur drei Tagen getoppt haben wird), mit all meinem Gepäck (kann man einfach nicht oft genug erwähnen), platzte mir der Kragen und ich ging in das nächstbeste Hotel, um dort in geschliffenem Französisch nach einem Taxi zu fragen. Wie wir alle wissen tut der Franzose an sich so, als spräche er kein Englisch und nur seinen französischen Akzent. Dabei war mein "Est'ce que vous pouvez apeller une Taxi pour moi?" nicht so waaahnsinnig komplex in der Aussage, aber erst viel später begriff die stolze Normondöse, was ich will und bald war ich tatsächlich viele Euro ärmer, aber in meinem Hotelzimmer. Scherz am Rande: als ich an der Rezeption fragte, ob es etwas zu Essen gibt, wurde ich ausgelacht, weil in Frankreich echt JEDE Gastronomie geschlossen hat. Zum Glück mache ich mir immer Fresspakete und überlebte diesen Abend, tief schlafend, in einem weiteren fremden Bett.
Von Cherbourg aus fahren exakt vier Züge jeden Tag. Alle nach Paris. Pünktlich um 10 Uhr stand ich im verlassenen Bahnhof, mit mir nur ein einsamer Bahnhofsmitarbeiter. So langsam fühlte ich mich wie in einem Point&Click Adventure:
> Schaue elektronische Fahrplanauskunft
Der nächste zug nach Paris fährt in drei Stunden
> Gehe gelangweilter Bahnhofsmitarbeiter
> Frage gelangweilter Bahnhofsmitarbeiter
Monsieur the next train has been cancelled, hahaha
> Benutze Regenschirm mit gelangweilter Bahnhofsmitarbeiter
Das ist leider nicht möglich
> Nimm neues Ticket und warte auf nächster Zug
Ich hatte nicht einmal Zeit, sauer zu sein, denn mein Raphyssee Masterplan basierte auf drei zeitlich eng aneinander folgenden Zügen. Natürlich konnte mir die Dame in Cherbourg kein Ticket für Paris > Mannheim ausstellen, das mich zu meiner Verbindung nach Hause bringen könnte, ich soll das in Paris Gar de l'est drucken lassen. Das ist ganz einfach! (Argh - immerdieseunheilvollenvorausahnungen)
War jemand schon mal in der Metro in Paris? Das ist kein Ort, den man gerne benutzt. Sofort erinnerte es mich an ein Goblinhöhlengewölbe mit vielen Gängen, Hallen und keinem Ausgang. Rein kommt man leicht.
Niemand fand es bisher nötig, mich darauf hinzuweisen, dass die Metro das Gegenteil von barrierefrei ist. Ich wollte doch nur zum Gar de l'est, der natürlich nirgendwo ausgeschrieben war. Lediglich mein recht unkompliziert gekauftes Ticket wies mich darauf hin, dass es den irgendwo geben muss. Ich und mein (30 Kilogramm schwerer!) Rolkoffer mühten sich durch die emsigen Menschenmassen treppab, treppab, treppauf, dann links, einmal im Kreis, wieder runter, dann hoch, dann die Orientierung verlierend, dem Geruch nach UBahn folgend ... bis irgendwo die Höhle des Goblinhäuptlings am Ende eines Tunnels auftauchte. Diffuse Lichter wiesen auf eine Art Auskunft hin. Ich hatte echt nicht mehr viel Zeit, bis zu meinem letzten Zug nach Deutschland, wenn ich in einer Stunde nicht drin säße, würde ich in Paris übernachten müssen. Und - das - WOLLTE - ich - nicht!
Mit dem letzten Willen meiner Vorfahren, die aus Stalingrad heimkehrten, gebot ich der kleinen Französin hinter dem Schalter mir die genaue Strecke mit Verbindungen zun Bahnhof aufzuschreiben, weil sie nicht verstand, dass ich sie nicht verstehe durch zwei Masken und Scheibe hindurch. Gnädigerweise kann ich fließend Goblinisch und entzifferte ihre wütend hingerotzte Sauklaue. Eine Viertelstunde später kam ich dann (einfach geradeaus ...) am Bahnhof an, nicht ohne Slalom fahren zu müssen, weil Horden von obdachlosen Menschen von den Goblins zum kargen Übernächtigen auf dem Boden gezwungen werden. Ich hatte keine Zeit, sie zu befreien, der Zug wartete auf mich, aber ich versprach zurückzukehren, mit Verstärkung.
Die Geschichte, wie ich dann an mein Ticket kam, und im Grunde gerade noch in den letzten TGV nach Deutschland sprang, ist so traumatisch, dass ich sie nicht erzählen will. Sehr oft musste ich aber an das Völkerschlachtdenkmal denken, das (völlig zu Recht) zum Erzfeind rüberblickt.
Nein, Scherz, ich mag Frankreich, nur halt an dem Tag so was von überhaupt nicht ...
Zwischen Strasbourg und Karlsruhe unterhielt ich mich noch mit drei (nicht maskierten!) jungen Polizisten, die endlich mal was tun wollten und nicht glaubten, dass ich mit all dem Gepäck unterwegs bin. Geduldig lauschten sie meinem Report, der begann mit: "Ich ging also los vor drei Tagen, mit diesem Rollkoffer und ..." und wünschten mir eine gute Weiterreise. Später haben sie unter sich bestimmt die Story weitererzählt von dem irren Deutschen, der von Irland aus mit einem 30 Kilogramm schweren Rollkoffer das Schiff nehmen wollte...
Jetzt sitze ich im allerletzten Zug nach Duisburg und bin fast da. Fast siebzig Stunden Reise liegen hinter mir. Ich spüre den süßen Geruch der Zivilisation mehr noch als ich ihn durch die Scheiss Maske riechen kann. Mir ist alles egal. Gleich bin ich endlich zu Hause, werde ins Bett fallen und beim Aufwachen erst mal wieder verwirrt sein, wo ich bin.
Aber ich werde mich langsam daran gewöhnen. Im Rückblick ist alles witzig, habe ich gemerkt. Man muss sich das nur einfach immer wieder sagen ...