Dritter Teil meines Reiseberichtes. Hier geht's zum ersten Teil, hier zum zweiten.

Um zum Beginn zurückzukommen: Damals erschien es mir anders, als heute. Ich war noch sehr jung und alles war aufregend. Wenn so viele neue Eindrücke auf einen einstürzen, dann ist es schwer, sie richtig zuzuordnen. Deshalb war es für mich nicht verwunderlich, dass mir bescheinigt wurde, den Weg, auf dem ich kam, gäbe es nicht. Ich war weniger stolz, einen geheimen Pfad entdeckt zu haben, als vielmehr verärgert, dass man sich über mich lustig machte.

Zusätzlich überspielte die körperliche Anstrengung den Bedarf an Mystizismus. Das gehört zu einem meiner Lieblingsthemenkreise: Couchhexen. Es ist einfach, im Trockenen und Warmen, beschützt und unter sich, den Okkultisten raushängen zu lassen. Deshalb ist es lustig, wenn selbsternannte Oberpriester der [insert-name-here-Göttin] unter Stress sogleich aus der Rolle fallen und dann Klassiker rufen wie: „Gott sei Dank!“ oder „Mein Gott!“

Erst unter Extrembedingungen zeigt sich, wer seine Religion ernst nimmt. Mein Kumpel Jesus in der Wüste hat sich auch dann nicht vom Teufel verführen lassen, als er echt ganz unten war. Nun, vielleicht war der ja ein Fanatiker, aber wenn man das Gleichnis anwendet auf unseren Hexer Theo, der das Sonnwendritual lieber auf morgen verschiebt, weil da ist das Wetter besser und das Fernsehprogramm schlechter … naja.
Ich jedenfalls hatte noch keinen Sinn für Live-Fantasy und war deshalb in Gedanken mehr damit beschäftigt, wohin ich als nächstes gehen werde, als woher ich komme. Deshalb war meine grundsätzliche Stoßrichtung: geradeaus und wann immer es geht, bergab.

Ich glaube, dass es noch ungefähr zwei Tage dauerte, bis ich zur Küste kam. Zuvor lag noch ein halsbrecherischer Abstieg über einen steilen Ziegenweg. Man will es nicht glauben, aber runter ist noch viel schmerzhafter, als hoch, denn bei jedem Schritt drückt das Gepäck in die Knie und die Knöchel, die alsbald ihren Dienst verweigern. Aus Heidefeldern war unmittelbar ein junges Birkenwäldchen geworden und dann stand ich auf einmal inmitten einer Apfelplantage. Schöne rote Äpfelchen und ein kleines Dörfli direkt am Fjord. Es war wieder einmal ein traumhaft schöner Tag, nicht zu heiß, nicht zu kalt, trocken und die Sonne ruhte sich von Zeit zu Zeit hinter einer Wolke aus.

Ich stellte meinen Rucksack vor einem Café ab und hüpfte hinein an einen Tisch. Hüpfen deshalb, weil man, plötzlich um 25 Kilo erleichtert, ein Gefühl hat, wie bei einem Mondspaziergang. Daher kommt der wiegende Gang der befreiten Rucksacktouristen. Einen großen Kaffee und Apfelkuchen mit Vanilleeis später, nahm ich die Fähre über den Fjord.

Während der Fahrt hielt ich meine Nase in den Wind, vor mir näherte sich ein weiterer bewaldeter Berg, umrahmt von blauem Himmel. Als ich zurückblickte entfuhr mir ein leises „Ups...“, denn dort schien gerade die Welt unterzugehen. Wie von einem großen schwarzen Leviathan verschluckt, ächzte das Festland unter dem plötzlichen Gewittersturm, der unvermittelt über es hereingebrochen war. Selbst aus großer Entfernung konnte man den dichten, schräg peitschenden Regen noch erkennen. Mein Überlebensinstinkt befahl mir, unendlich erleichtert zu sein, rechtzeitig weggekommen zu sein. Aber war es wirklich rechtzeitig? Was wollte mir das Land mitteilen? War es ein Gruß, eine Warnung? Heute frage ich mich das, damals mimte ich den Nelson, deutete mit dem Zeigefinger und sagte „Haha.“

Der nächste Aufstieg war nachgerade langweilig, verglichen mit den vorigen Erlebnissen. Es ging zwar wieder hoch hinauf, aber einen langen und viel zu gepflegten Weg lang, immer wieder begleitet von anderen Touristen. Ich wurde aber merklich immer trainierter, mein Tagespensum wurde länger und ich wollte woanders hin. Deshalb nahm ich in der nächsten größeren Touristenstadt, oben auf dem Berg, den Bus nach Bergen.

Wer schon einmal im Ausland mit einem öffentlichen Bus gefahren ist, weiß, dass man bloß nicht an deutschen Sicherheitsbestimmungen hängen sollte. Diese Mörder heizen in einem Tempo durch Kurven und an ungesicherten Abgründen entlang, dass einem Angst und Bange werden könnte. Gleichzeitig  vermitteln sie auch mit ihrer gelangweilten Grundhaltung eine gewisse Gleichgültigkeit am Leben, die mich zusätzlich erschreckt.

Mit mir im Bus war sonst nur ein Haufen Japaner, die alle schliefen! Während der ganzen Fahrt! Dabei war die Szenerie doch so wunderschön...
Der Traum schlechthin war eine Serpentine bergab, weil hinter uns Rücken einen gewaltiger Wasserfall rauschte, über dem ein großer Regenbogen schimmerte. Ich habe vor Freude geweint, die anderen schliefen. Seltsames Volk.

In Bergen regnet es immer. So gut wie immer. Es ist die regenreichste Stadt Europas. Als wir uns auf der Autobahn näherten, begann es auch schon zu tröpfeln und dann zu schütten.
Nur … die Stadt hatte nicht mit mir gerechnet, denn ich habe im Urlaub immer die Sonne dabei. Wieso das so ist, weiß ich nicht, aber so eben auch in Bergen und just in dem Moment, als ich den Busbahnhof verließ, rissen die Wolken auf, die Sonne lachte, die Fenster sprangen auf, die Leute kamen heraus auf die Straße, blickten zum Himmel, scherzten und tanzten (wirklich wahr!) und ich, der Befreier, suchte mir ein Hostel.

Endlich ohne Gepäck, schlenderte ich über den Markt, kaufte mir frische Shrimps, die ich knabberte, wie Popcorn und besuchte dann ein paar Museen. Das Hansemuseum ist wirklich extrem beeindruckend. Ich empfehle, eine Führung mitzumachen, denn die Geschichten, die in dem kleinen Gebäude schlummern, muss man einfach hören.

Abends in der Herberge schloss ich sofort Freundschaft mit einer Gruppe Australier und Amis. Keiner von uns war sich vorher je im Leben begegnet, aber wir hatten einen Heidenspaß. So viel ungezwungene Freundlichkeit war mir vorher noch nicht begegnet. Und eins habe ich gelernt: Die Australierinnen sind tough. Mein lieber Scholli! Die würden am Boden liegen vor Lachen, wenn sie eine panische, deutsche Frau erleben würden, die vor einer Spinne erschrickt. Das Hauptgesprächsthema war demnach auch: wie tötet man welches Tier am effektivsten, ohne von ihm vorher getötet zu werden. Ich habe gelernt, dass jemand ganz anders aufwächst, wenn die Natur um ihn herum bedrohlich ist. Wir sind verwöhnt und undankbar, das stimmt, ich bin dennoch seitdem froh, eben nicht bei jedem Gang auf die Toilette oder zum Auto, alle Ritzen nach tödlichen Spinnen oder Schlangen absuchen zu müssen.

Auch am nächsten Morgen schien wieder die Sonne, dementsprechend war die Stimmung in der Stadt ausgelassen, wie auf einem Volksfest. Ich hing ein wenig rum und wartete, bis meine neuen Freunde aufstehen würden. Ich kann es nicht leiden, lange zu schlafen, da verpasst man den ganzen Tag, aber andere stehen drauf, drum hieß es warten.

Dann begann der esoterische Teil der Reise, der so unglaublich ist, dass ich ihn einfach erzählen muss.

Es gibt einige schöne Touristengeschäfte, besonders am Bryggen, der Ansammlung alter Kaufmannshäuser aus Hansezeiten. Doch da ist viel Kitsch dabei und ich war sowieso etwas klamm bei Kasse. Mein bester Freund an diesem Morgen, um die Wartezeit zu überbrücken, war Thor.
Das ist ein 0,7-Liter Bier mit akzeptablem Geschmack. Schön an Norwegen ist, dass die Flaschen Bier bei 0,7 anfangen und bei 2,5-Liter Pfandflaschen aufhören. Es gibt keine Kühlregale, sondern Kühlräume voller Bier. Jeg elsker Norge!

Während ich so im Schatten am Rande des Marktplatzes saß und die Masten der Schiffe zählte, bemerkte ich einen glitzernden Haufen auf dem Gehweg am Übergang zur Häuserwand, halb verdeckt von Brennnesseln. Erst nach ein paar Schluck beschloss ich dann, doch mal im Straßendreck zu wühlen und mir das anzusehen.

Wieder traute ich meinen Augen und tastenden Händen nicht. Vor mir lag ein ganzer Berg silberner Münzen. Es waren hunderte 50-Öre-Münzen, alle recht frisch. Ich blickte herum, aber niemand war da.
Ob es richtig war, weiß ich nicht, aber ich beschloss Eigentum zu erwerben durch Vermengung mit eigenem Geld. Vielleicht hätte ich es irgendwo hinbringen sollen, aber worauf hinaus? Meldet sich wirklich jemand und fragt nach einem Berg Münzen? Nun ja …

Und so unglaublich es auch klingt, kaum wog ich meinen neuen Reichtum hin und her, da kam auch schon Einar Dibblersson des Weges mit einem Bauchladen voller Silberschmuck. Und ganz genau zu dem Preis, den die Münzen wert waren, kaufte ich einen Armreif, der nach alter Wikingertechnik mit Hämmern und Ziehen gefertigt worden war. Das ist bis heute der magischste Gegenstand, den ich je in Händen hielt. Der Verkäufer sprach nur Norwegisch, ich nur wenig, aber zufrieden zog er seiner Wege und es ist schon fast unnötig zu erwähnen, dass ich ihn nie wieder sah.

Am Nachmittag zog ich mit meinen Kumpels um die Häuser, wir bildeten, betranken und beömmelten uns. Ein Tag purer Lebensfreude. Mit einer der Australierinnen hatte ich ein Gespräch über Hexerei, denn sie sagte, sie wäre eine und ich sagte, ich wäre gerne eine, wüsste aber nicht, wie ich das bewerkstelligen soll. Ich laberte sie in einer Tour voll und redete mir den ganzen Kummer vom Herz, sie war eine großartige Zuhörerin. Als ich fertig war, sagte sie, nicht älter als ich, aber weise lächelnd, ich sollte nicht so ungeduldig sein.

Den Sonnenuntergang verbrachten alle Einwohner und Touristen am Strand. Wenn es nämlich schon einmal nicht regnet, dann muss man das Schauspiel gesehen haben. Wieder standen und saßen die Zuschauer da, unterhielten sich nur leise, fast ehrfürchtig und genossen den Anblick sich kräuselnder Wellen, die im dämmriger werdenden Licht aussahen wie flüssiges Gold.
Es war einfach fantastisch. Ich war vollkommen ergriffen, als sich von hinten die Hexe näherte und sie sagte: „You see? Small steps.“

Das war meine Initiation, wenn ich jemals eine hatte.

Dass ich später in Oslo auf der Jugendherberge einen jungen Mann kennen lernte, der zufälligerweise meinen Kompass gefunden hatte und ihn mir wiedergab und  - ach ja, dass ein Vietnamveterean, der jetzt als Gitarrenlehrer in Kopenhagen lebte, mir, einfach so, eine private Bluessession vom Feinsten gab, während ich packen musste, waren auch Highlights, aber fast schon zu viel der Erzählung.

Aber wisst ihr, was das Großartigste an diesem Urlaub war?

Es ist alles genau so passiert.