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- Veröffentlicht: 31. August 2010
Vor ein paar Jahren bin ich mit meinem Vater kurz zu dem Ort zurückgekehrt, in dem ich meine früheste Kindheit verbracht hatte. Das ist ein Städtchen tief in den österreichischen Bergen, auf der einen Seite begrenzt durch Felswände, die die späte Sonne wegsperren und auf der anderen Seite die Reste der glorreichen österreichischen Montanindustrie. Also nicht gerade das Bergbauernidyll aus dem Bilderbuch. An die Stadt selber erinnere ich mich kaum, sehr wohl aber an unsere Wohnung, den schönen großen Hof und den Kletterbaum.
Das war ein echter Baum mit tiefhängenden Querästen, da konnte man im Schatten kraxeln und Abenteuer erleben. Heute gibt es ja nur noch TÜV-geprüftes Spielgerät, teuer errichtet, gewartet und immer in der prallen Sonne. Die Göttin pflanzt überall um uns herum die großartigsten Spielplätze: trittfest, ökologisch, moosgepolstert, nachwachsend bei Beschädigung und wir haben nichts besseres zu tun, als Bäume zu fällen um Platz zu machen für genormten Kinderspaß...
Meine erste Schule stand nur ein paar Straßen weiter und nach dem damals noch unkomplizierten Schulweg-Training mit meinen Eltern konnte ich die kurze Strecke selbständig hin- und zurückgehen. Während des zweiten Jahres meiner Schülerkarriere, sind wir dann in eine andere Stadt gezogen. Das schöne an diesem Umstand war, dass die Zeit vor dem Umzug konserviert worden war. Passieren die Dinge nämlich langsam, schrittweise, dann bemerkt man es nicht.
Der neue Eindruck setzt sich an die Stelle des vorhergehenden.
Und irgendwann weiss man gar nicht, wie das war: die Zeit "vorher".
Ist der Schnitt aber scharf genug, dann bleibt die alte Erinnerung bestehen.
Während unseres Nostalgiebesuches hatte ich meinen Vater deshalb gebeten, den alten Schulweg noch einmal zu Fuß gehen zu dürfen. Ich wollte das vertraute Quietschen der Tür zum Gehweg hören, den Flieder riechen, dann rechts die erste Strasse rein, dann die zweite und dann ... Ich sah mich um und suchte einen weiteren Weg. Aber da war nur eine Sackgasse, die an einer Art Stadthaus endete. Mein Vater wusste nicht, was ich noch wollte und fragte, ob wir jetzt weiterfahren können. Ich wiederum wunderte mich, wo denn die Schule geblieben sei und wieso mein Weg hier plötzlich abbrach. Ungeduldig deutete er auf das Haus und sagte, dass das alles sei. So wäre es hier immer schon gewesen, es sei erstaunlich, wie wenig sich geändert hätte.
Zurück auf der Autobahn grübelte ich darüber nach. Ich hatte alles viel größer in Erinnerung. Wie konnte der Weg so kurz geworden sein? Hatte man damals doch Zeit für mindestens zwei Abenteuer, Abkürzungen, Umwege und Gespräche gehabt. Zeit, Dinge aufzuheben, an Blumen zu riechen, Schulzubehör zu verlieren, die Knie wund zu scheuern und die Kleider zu ruinieren. Das soll sich auf den paar Metern alles ausgegangen sein? Und die Schule selbst hatte doch diese große Eingangshalle gehabt und ein breites Treppenhaus, wo die coolen älteren Schüler durch die Flure stürmten, uns Neue wegdrängelnd, um zu den ehrwürdigen Klassenzimmern zu kommen. Das hier war nicht die selbe Welt wie damals.
Natürlich war ich dereinst ein kleiner Junge gewesen und mein Blickwinkel war dementsprechend ein tieferer. Ausserdem waren meine Beine kürzer, deshalb war die Anzahl der Schritte höher. Es war damals tatsächlich alles größer und weiter gewesen. Geht man denselben Weg als erwachsener Mann, dann ist das etwas anderes. Aber es kommt auch noch dazu, dass viel von dem Zauber weg ist. Nichts ist mehr neu, unbekannt und unerklärlich. Die aufregende Welt meiner Kindheit ist zum größten Teil profanen Alltagsbeobachtungen gewichen. Um mich heute vom Weg abzulenken braucht es schon etwas Aussergewöhnliches. Dabei bin ich ein guter Beobachter und weiß mich an kleinen Dingen zu erfreuen, aber dennoch glaube ich, dass meine Bildung, so nützlich sie auch sein mag, viel von der Magie genommen hat.
An diese Szene musste ich mich erinnern, als ich unlängst mit meinen Kindern einen Spaziergang zum Fluss gemacht hatte. Seit einem halben Jahr gehe ich schon nicht mehr den Weg zum Kindergarten, der in der selben Richtung liegt, mit ihnen und war erstaunt, wie schnell wir unser Ziel erreicht hatten.
Die lieben Kleinen sind auch älter geworden, ihre Beine länger und kräftiger, ihr Blick selbstbewusster und wenn ich unsere Zwergenhöhle am Strand suchen möchte, freut sich die Kleinere noch, während der Große schon mit den Augen rollt und nur mitspielt, um mir eine Freude zu machen. Man merkt: sie drängen voller Freude in die Welt der Erwachsenen vor, unwissend, dass sie dabei viel verlieren werden.
Das können und sollen wir nicht verhindern, aber ich werde ihnen helfen, sich immer daran erinnern zu können, wie schön es war, als Kind die Welt zu erleben.