Read MoreIch beschließe, meine freie Zeit zu nutzen und mir einmal die Stadt anzusehen, in der wir wohnen. Der Frühling beginnt zwar langsam, Fuß zu fassen und der warme Wind vertreibt die letzten Frostzwerge in ihre Höhlen, aber ich bin hin- und hergerissen zwischen der Freude, dass es jetzt wieder wärmer wird und erschrocken zu sein über all die Menschen, die mitten am Tag in der Fußgängerzone rumhängen. Da habe ich einmal ein paar Wochen frei und hatte vor, die Einsamkeit der Stadt zu erkunden und dann ist da ein Andrang wie auf einem Guns’n’Roses-Konzert.

Wie wir wissen, gehen Rentner erst nachmitags einkaufen, damit sie möglichst gezielt den Leuten im Weg stehen können, die nach Feierabend noch mal eben schnell ein paar Besorgungen machen wollen, die können es also nicht sein. Studenten schlafen noch, die habe ich auch nicht im Verdacht. Und tatsächlich sind es hauptsächlich Schüler und mehr oder mehr weniger enthusiastisch auf die nächste Arbeit wartende Nichterwerbstätige, die versuchen, ihren Frust, demnächst (wieder) Leistungsträger sein zu müssen, durch exzessives Shopping auszugleichen. Während Parfümtütlein, pralle Medienmarkt-Taschen und ganze mannshohe Flachbildschirme an mir vorbeiziehen und ich mich frage, wie viel mehr Kaufkraft eigentlich noch produziert werden kann, höre ich den wohligen Klang einer Gitarre.

Leider muss man sagen, dass heutzutage eine Gruppe singender Menschen in Deutschland einzig und allein auf zwei Ursachen zurückzuführen ist: Alkohol und Religion. Die Zielgruppe der Alkoholsänger befindet sich vormittags-werktags noch im Bett, deshalb wird relativ schnell klar, dass es eine Gruppe Christen auf mich abgesehen hat.

[auf dich? wirklich?]
[Genau. Und schau mich nicht so skeptisch an, das hast Du Dir von meiner Frau abgeguckt und es gefällt mir nicht.]
[dann lass es mich mit geschlossenen augen sagen: wie kommst du darauf, dass sie zu dir wollten?]
[Zu wem denn sonst? Du weißt schon, was man über Motten und Licht sagt?]
[seufz. erzähl weiter]

Eine Gruppe adrett gekleideter und alptraumhaft fröhlicher Jugendlicher schlägt sich Bahn durch die Armee der Konsum-Berserker und kann nicht umhin zu bemerken, dass ich sie freundlich anlächle.

[wie dämlich. hatten wir letztens nicht erst gesehen, dass man einem wütenden gorilla niemals in die augen sieht?]
[Den Zusammenhang erklärst Du mir bitte.]
[ein singender christ ist wie ein pferd, das die ohren anlegt, ein wolf, dem das nackenfell hochgeht, ein känguru, das sich boxhandschuhe anzieht oder eben ein gorilla, der die zähne zeigt: er hat etwas vor]
[Hm. Stimmt. Aber ich kann nicht anders, ich muss zwanghaft zu denen nett sein, die mir noch nichts getan haben.]

Ich glaube, ich hatte einmal einen Traum dieser Art: Ich stehe mit dem Rücken zur Wand und werde besungen, bis die Ohren bluten und ich umfalle. Und so ist es beinahe. Im Halbkreis bauen sie sich um mich auf und singen mir etwas vor. Es ist zugegebenermaßen ein schönes Lied. Ohnehin fällt mir immer wieder auf, dass es Christen drauf haben, wenn es um gemeinsamen Gesang geht. Sie freuen sich, dass ich nicht schreiend weglaufe und fordern mich auf, zu klatschen, woraufhin ich mit meinem Döner winke und erklärenderweise herzhaft reinbeiße. Meine Musikbegleitung hört irgendwann auf und geht nahtlos in den Zettelverteilmodus über. Das mir dargereichte Pamphlet lehne ich mit meiner eben erprobten Dönermethode ab, was den Wanderprediger aber leider ermuntert, mit mir zu reden.

„Ist das nicht ein schöner Tag?“
„Mampfmampf – doch, ist es.“
„Mögen Sie Musik?“
„Kommt darauf an.“
„Hat unser Gesang eben Ihnen gefallen?“
„Ja, das war schön.“
„Das freut mich. Sie sind herzlich eingeladen, mit uns den Herrn zu feiern!“
„Welchen Herrn?“
„Gott, den Herrn.“
„Herrn Gott?“
„Sind Sie vertraut mit dem Wort Gottes?“
„Ja. Ich glaube, ich habe davon unlängst in der Zeitung gelesen.“
„Wirklich?“
„Ich glaube das neueste Wort eures Gottes ist Kinderschänder. Das hat erfolgreich die alten Klassiker Feuer, Völkermord, Raub und Denunziation abgelöst. Welches davon meintest Du?“

[wow. und wie hat er reagiert?]
[Er hat mich einfach ignoriert. Christen sind schon deshalb so erfolgreich, weil sie immer zwischen ihrer privaten Realität und der öffentlichen Realität unterscheiden. Ich denke, Daniel hat in der Löwengrube auch nur überlebt, weil er gedacht hat: Das sind jetzt aber nicht meine Löwen …]