Ich denke, sie endlich gefunden zu haben: die Essenz des Dilemmas modernen Heidentums in Reinform.

Ich kann wieder beruhigt schlafen gehen, denn die Mühe, dieses Hexenblog zu schreiben, hat sich gelohnt!

Das Stichwort ist (TADAA): Mystik

Wie? Ihr seid nicht überrascht? Dann beantworten wir doch zuerst einmal die Frage, wodurch sich eine richtige Hexe von einer Karnevalshexe unterscheidet. Die Antwort ist, dass die echte Hexe sich Freiraum offen hält für Wahrnehmungen, die mit den bekannten Sinnen nicht zu machen sind. Sie ist bereit, Wahrheiten zu akzeptieren, die nicht direkt bewiesen werden können. Das betrifft Geister, Götter, Energien und Anderswelten.

Auch wenn ich ehrlicherweise davon ausgehe, dass kaum eine Hexe diese Dinge tatsächlich wahrnimmt, so ist es doch Teil ihres Lebensstils, die Annahme der Existenz dieser Dinge in ihr Denken und Handeln einzubinden.

Unser großes Problem ist die durchrationalisierte Welt. Wir kennen die genauen Wege der Sonne und des Mondes. Das Wissen um Pflanzenwachstum und die Evolution können wir nicht mehr leugnen. Die Wirkstoffe aus der Natur sind bekannt und für jeden Laien überall nachschlagbar.
Die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Tarotkarten mit dem Sternenhimmel und dem eigenen Geburtsmonat in Beziehung zu bringen, gelingt eigentlich nur unter vollkommener Umgehung aller Vernunft. Und doch ...

In meinem kleinen Herzen halte ich Räume frei für Unvernunft. Als ich dereinst feststellte, dass ich eine Hexe bin, beschloss ich das so zu halten, damit ich mir nicht alle Wege verstelle, mich gebührend zu wundern. Und jetzt weiss ich zwar, dass die Blumen blühen, weil ein Bienchen den Pollen zum Stempel, etc., aber gleichzeitig behalte ich es mir vor, kleine Blumenfeen erkennen zu wollen, wenn ich so ein bißchen anders hingucke. Sir Pratchett schreibt in "Wee free men":

Tiffany: "Where is the school of Witchcraft?"
Miss Tick: "You go up that hill."
Tiffany: "And then?"
Miss Tick: "You close your eyes and open them."
Tiffany: "So?"
Miss Tick: "Then you close your eyes and open them again."

Diese Szene habe ich nie hinterfragt, weil ich es instinktiv immer schon so gemacht habe, aber wie so oft hat der Meister einen Großteil der gesamten Weisheit in einen oberflächlich belanglosen Dialog gepackt.

Man muss bereit sein, sich auf etwas einzulassen, von dem man nicht weiss, was es ist. Das verlangt Mut, weil das Unbekannte nicht jedermanns Sache ist. Und ohne die Bereitschaft, Verantwortung für das Erkannte zu übernehmen, ist der Mensch keine Hexe, sondern ein Träumer. Das wird oft verwechselt: Nicht jeder, der sich einbildet, mit seinem dritten, vierten oder gar fünften Auge Wichtel und Farben zu sehen, ist eine Hexe. Sich mit den Zwischenräumen zu beschäftigen ist kein Spiel. Erst recht nicht für Menschen, die nicht einmal bereit sind, die Betriebsanleitung vorher zu studieren.

Zu behaupten, die verschiedenen Hexen von heute beriefen sich auf eine uralte Tradition, ist natürlich Unsinn. Jeder, der sich intensiver mit dem Neuheidentum beschäftigt, weiss, dass das gesamte Fundament unserer Religion nur ein paar Jahrzehnte alt ist. Die ganze Philosophie, die Sprüche, die Rituale und selbst die Ingredenzien (keine der alten Kräuterfrauen hatte jemals Weihrauch benutzt, aus naheliegenden Gründen) sind neu erfunden worden. Die Gründer wussten um die Aufklärung, die Evolution und die Schwerkraft. Es waren gebildete Menschen, die vor hundert Jahren die ersten Bücher der Schatten schrieben. Die Frage stellt sich: Wieso taten sie es trotzdem?

Naja, der Großteil wollte (und will immer noch) leichtgläubige Menschen locken und deren Geld, Einfluß und sexuelle Gefälligkeiten erlangen, aber von denen rede ich nicht.

Nein, unsere seriösen Religionsstifter haben sich bewusst dafür entschieden, dass es Dinge gibt, die wir nicht verstehen können. Das ist ein großer Schritt für einen kleinen Menschen. Er verabschiedet sich von seiner Gewissheit und lagert einen Teil davon aus.
Christen tun das, indem sie einem Priester und seinem unzeitgemäßem und extrem widersprüchlichen Lehrbuch aus einem fernen Land vertrauen. Das beruhigt sie und erhebt sie ihrer Meinung nach über andere Religionen hinweg, weil die anderen laut "Lehrmeinung" eine schlechtere Religion verfolgen und deshalb zu ihrem eigenen Wohl getötet werden sollten.
Die Fragen dieser Schäfchen beginnen immer mit: "Was könnt ihr diesbezüglich machen?"

Eine Hexe würde niemals, ich betone: NIEMALS einem Priester vertrauen. Erst recht nicht, wenn er sich obendrein auch noch das Präfix Hohe- gibt. Faustregel: je länger der Titel, desto unfähiger und damit gefährlicher der Priester.

Eine Hexe übernimmt die Verantwortung für das, was sie erkennt und zwar selbst, sofort und klaglos.
Ihr Interesse an einem Thema beginnt immer mit "Was kann ich diesbezüglich machen?"

Solchermaßen erhöht sich dadurch natürlich das Risiko, den Glauben zu verlieren, denn es ist einfacher, jemanden anderen die Zweifel zerstreuen zu lassen, als es selbst zu tun. Hexen haben deshalb mehrere Türen zu ihrer Religion verschlossen und dazu gehört auf jeden Fall auch das Thema Magie. Geheimnisvolles steckt man in eine Kammer seines Bewusstseins und baut eine Sicherheitsverwahrung drumherum. Sobald man das Gefühl hat, sich damit beschäftigen zu können oder müssen, dann wird diese Tür geöffnet und der Kampf beginnt.

Dieses Modell funktioniert bei uns erwachsenen Hexen, die sich rational mit diesem Fachgebiet schon einmal beschäftigt haben, aber was machen wir mit unseren Kindern?
Der Nachwuchs von Hexen, die ich kenne, wächst durch die Bank auf, ohne in die Religion der Eltern sonderlich eingebunden zu werden. Nicht nur, dass Kinder zu Ritualen oft gar nicht zugelassen werden, was eine Ungeheuerlichkeit sondergleichen ist, sondern es wird sich auch nicht getraut, mit den Kindern über die höchstpersönliche Mystik zu reden. Es ist den Eltern ab einem gewissen Entwicklungsstadium ihrer Kinder peinlich. Das ist sehr traurig. Ich habe zum Glück ein eher einfaches Gemüt und kann mich auf dem kindlichen Niveau gut zurecht finden, aber anderen fällt es zunehmend schwerer, ihre Anderswelten gegen die wachsende Bildung ihrer Kinder zu verteidigen.

Bestes Beispiel: The eternal legend of the Wilde Jagd featuring Knecht Ruprecht vs. ye olde Weihnachtsmann and the Christkindl. Das ist mit Sicherheit der erste Glaubenskonflikt. Alle Eltern haben da ihre eigene Methode, aber keiner fühlt sich wirklich wohl und die meisten hoffen, das sich das irgendwie von selbst erledigt.

Mein Sohn kommt bald in die Schule und hat noch nichts, was einer nennenswerten Allgemeinbildung ähnelt. Dennoch erwische ich ihn schon mal während den besonders haarsträubenden Fabeln unsererseits, dass er eine Augenbraue hochzieht und versucht, seinen aufkeimenden Zweifel niederzuringen. Er weiss, dass eine Geschichte oft aufregender ist, als die allgemeingültige Wahrheit.

Als wir vor ein paar Wochen mit unserem neuen Baby nach Hause gekommen sind, haben wir den Geschwistern je einen riesengroßen Lutscher auf ihren Platz gelegt und dazu erzählt, dass ihre neue Schwester diese als Geschenk aus dem Zauberland mitgebracht hat. Mein Sohn brauchte fast fünf Minuten intensives Nachdenken und, nervös lutschend an dem "Zauberlolly", rang er sich schließlich eine Frage ab: "Das stimmt doch nicht, oder?"
Dann sah er mich an und wartete auf eine Antwort.

Ich wusste nicht genau, was ich sagen sollte. Er hat bestimmt schon erlebt, dass man Lutscher im Laden gegen Geld bekommt. Das Zauberland hingegen hat er noch nie live und in Farbe wirklich gesehen. Ich wusste, dass meine Antwort für ihn entweder eine Lüge oder eine unangenehme Wahrheit enthalten würde. Meine Pflicht als erziehungsberechtigter Hohepriester (siehe oben) unserer Familie ist es aber doch, ihm unsere Religion nahe zu bringen und verständlich zu machen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit antwortete ich: "Ich glaube schon."
Damit war er vorerst zufrieden. Aber ich fürchte, das Thema ist nur vorübergehend vom Tisch und könnte irgendwann auch etwas relevanteres als einen Lutscher betreffen. Das wird noch hart.