Und schon wieder musste ich ein Heidentreffen verlassen.

Dabei war ich so gut vorbereitet. Ich hatte gelernt! Alle Namen der potentiell anzurufenden Göttin und ihre interne Verflechtung mit den für die Veranstaltung zu erwartenden Gästen inklusive deren Dienstgrad und Halbschattennamen.

Ich klärte, ob der Fokus eher auf Auren, Drachen, Engeln oder kleinem Volk liegt. Auch ob man sich bei der Wahrheitssuche auf Runen oder Tarot verlässt.

Beim Ankleiden wählte ich mit Bedacht nichts mystisch-Dunkles, nichts Seriöses, nur wenig und unpolitischen Schmuck und reservierte sicherheitshalber vegetarisches Essen.

Mein Auto parkte ich zwei Ecken weiter, damit auch keine Beurteilung meiner Person anhand von Statussymbolen stattfinden könnte. Ich schnappte meinen Schlafsack und den Festival-Rucksack, setzte den Hut auf und mit meinem kurzen Standardstoßgebet („Liebe Göttin, ich weiß, Du hast Humor, aber nicht heute, ok?“) ging ich den holprigen Weg zur Burg hinauf, um dort das Frühlingsfest mit Gleichgesinnten aller Richtungen zu feiern.

Wie kam ich eigentlich ursprünglich dazu? ...
Nun ... irgendwann am Anfang der Neunziger hatte ich beschlossen, es hochoffiziell mit der naturspirituellen Sicht der Jahresfeste zu probieren und seit die Geister mich an diesen großen Weltenbaum gefesselt hatten, bin ich davon nicht mehr losgekommen. Auch wenn regelmäßig ein mythologisch offensichtlich ungebildeter  Adler kommt, um an meiner Leber zu fressen, so habe ich mich davon doch nicht abschrecken lassen und bin blind jeder Göttin hinterhergelaufen, die gerade den kürzesten Rock anhatte.
So ist das nämlich mit dem Heidentum in Deutschland: Man kann tun, was man will.

Und das tut dann auch jeder. Und zwar streng nach den Regeln der wilden Stammeskultur, die wir anscheinend gerne wieder wären. Die einzelnen Stämme haben auch ihre Häuptlinge, die meist Lady [insert any goddess here] oder Hexer [insert celtic name here] heißen und die die ein bis zehn Gebote der alten oder neuen  Zeit zitieren oder sogar lehren.

Viele dieser Gefolgschaften habe ich besucht und nur mühsam gelingt es mir immer und immer wieder, in der nachfolgenden Arbeitsrealität den Kopfschüttelreflex wieder abzuschalten. Zum Glück bin ich meist allein im Büro und am Telefon sieht das keiner.

Diesmal ist der „Kult der gefallenen Götter“ dran. Das ist sogar ein großer Verband, der als Auffangbecken und Sprachrohr der Heidenszene dienen will und da ich mich direkt angesprochen fühle, will ich auch wissen, wer da für mich spricht.

Ich atme noch einmal tief durch, greife mein Gepäck fester und trete durch das große Holztor in den Burghof.

Das Klischee traf mich, wie der Geruch der Oase nach einer Wüstenwanderung.

Vorab sollte man erwähnen, dass es etwas gibt unter Hexen, das sie verbindet. Wenn man sich trifft, dann hüpft das Herz irgendwie und man fühlt sich wohl. Wie eben nach einer langen Wanderung, wenn man ankommt. Natürlich ist jeder einzelne so verschieden, wie Flüchtlinge ohne Vergangenheit eben nur sein können und doch gilt der weise Satz: „Die kleinen dummen Unterschiede sind nichts gegen die großen dummen Gemeinsamkeiten.“ Ich war bereit, mich den Gemeinsamkeiten zu stellen und darin zu baden. Einmal kollektives Erlebnis und zurück.

Eine Reihe der Anwesenden würde ich kennen, mal mehr, mal weniger gut, aus bisherigen Treffen. Es gibt erstaunlicherweise, anders als im richtigen Leben, bei solchen Veranstaltungen kaum Menschen, die ich gar nicht kennenlernen will. Die meisten der Leute haben eine interessante Geschichte und das gleiche Bedürfnis an besagtem kollektivem Erlebnis. Die paar Selbstdarsteller mit gehirngewaschener Gefolgschaft sind überschaubar und sich meistens eh zu fein für ein Treffen mit uns „jungen Seelen“.

Im Burghof standen schon die ersten Esos und rauchten. Die rauchen immer. So viel ich weiß waren es die Indianer, die den Tabak verehrten und opferten. Da Hexen aber nun mal tun, was sie wollen (siehe oben), erklärten sie in einer völlig untypisch debattenlosen Grundsatzerklärung Zigarettenrauch zum Brauch. Gleichzeitig wurde Rauchen in einer beispiellosen Lobby-Aktion auch von der Regel aller Regel: „Tue was Du willst, solange Du niemandem schadest“ herausgenommen, aber dazu schreibe ich ein anderes Mal.

Ich schmeiße mein Gepäck in die Ecke und mich an die Brust des ersten in schwarzes Leder gekleideten Wesens, das mich erkennt und erdrücken will. Dass sich Hexen/Heiden/Pagans lieber umarmen als Handschütteln, finde ich toll. Es ist viel freundlicher und gleichzeitig sauberer. Was die Leute mit ihren Händen machen ist deren höchstpersönliche Angelegenheit, ich muss daran nicht immer teilhaben. Diejenigen, die ich nicht kenne, begrüße ich mit kurzem Nicken, was diese ebenso umkompliziert quittieren.

Eine halbe Stunde später ist mein Rucksack auf dem Zimmer und ich sitze mit dem ersten schönen verdienten, kühlen leider warmen Bier in einer lustigen Runde. Wir reden, wie immer bei so Treffen, über alles außer hexentechnische Angelegenheiten. Wäre ja auch noch schöner, wenn man mal das ansprechen würde, was alle interessiert und verbindet. Nein, es geht um Computer und Fernsehprogramme.

Der erste Abend ist immer Anreisetag, das heißt, es tröpfeln fortlaufend Besucher ein, es wird begrüßt und gelacht, ich lerne ein paar neue Gesichter kennen. Das ist immer ganz nett. Schon deshalb komme ich gerne als einer der ersten an, denn dann hat man Zeit, sich umzusehen und wird nicht gleich erschlagen von der Gruppendynamik.

Wie so oft werden auch ein paar Marktstände aufgebaut, für den einen oder anderen dementen Heiden, der seine Zauberfoki oder Gruppenzuordnungsabzeichen zu Hause vergessen hat. Marktwirtschaft funktioniert auch unter Hexen und zwar sehr gut. Es gibt keinen besseren Indikator, in welche Richtung sich unsere Religion bewegt, als einen vollen Ladentisch. Ich sehe mir diese Stände immer gerne an, denn mich interessiert, was es so an neuen Designs gibt, in welche Richtung entwickelt sich der Trend und was kann man den Kindern mitbringen. Die Buchtitel sind auch sehr aufschlussreich. Begonnen hat es vor 20 Jahren mit fast ausschließlich Büchern wie „Zaubern mit Hexe Clea“, „Verliebt und beliebt in 30 Tagen mit Wicca“ und „Geheimnisse, die keiner kennt“. Danach machte sich klammheimlich die nordische Mythologie breit, die Asatruar gewannen an literarischem Boden. Und heute gibt es immer mehr heidnische Bilderbücher, Märchen, Kochratgeber. Das steht sehr bezeichnend für die wachsende Reife der Heiden und ihren Übergang von einer Traumspinnerei zu einer in der Mitte der Gesellschaft angekommenen und endlich ernst zu nehmenden Bewegung.

Auch der zweite Tag beginnt meist entspannt. Anwesende ohne Kinder haben das Wiedersehen noch lange gefeiert und wollen nun ausschlafen. Diejenigen mit Kindern versuchen, sich nicht unbeliebt zu machen und stehen schon früh auf, treiben das Gefolge zum Frühstück und dann hinaus, um die Schnarcher nicht auch noch mit Kindergelächter zu übertönen, denn wenn ein verkaterter Asatru etwas nicht leiden kann, dann sind das Kinder am Morgen. Ich habe meine Familie bewusst zu Hause gelassen, meine Frau schickt mich immer erst mal voraus, die Kinderfreundlichkeit eines solchen Treffens zu testen. Da gibt es nämlich gewaltige Unterschiede. Aber auch dazu ein anderes Mal mehr.

Der weitere Ablauf setzte sich zusammen aus einer Reihe Workshops mit netten Vorträgen über aktuelle Bücher, über die Edda und über Aura lesen (den letzten Vortrag habe ich wohlweislich nicht besucht, denn da kann ich mich nur unbeliebt machen; ich halte die „Fähigkeit“ Auren wie Farbschimmer zu sehen oder zu fotografieren für einen Riesenhumbug), dann gab es noch Essen und schließlich die Vollversammlung. Von da an begann es, bergab zu gehen.

Sobald sich drei Deutsche begegnen, sind sie ein Verein oder wären gerne einer. Dazu braucht man eine Satzung, Vorstand und im Vereinsrecht Bewanderte. Außerdem ein hohes Maß an Konfliktfähigkeit. Ich hassse (jawoll … mit drei „s“) Vereinsmeierei. Sie ist der Autoimmunkrebs unserer Gesellschaft. Geschaffen von und für Kleingärtner und Fischer, um alte, gelangweilte Menschen zu beschäftigen und davon abzulenken, dass ihre Rente wieder gekürzt wird und uns, der nächsten Generation, als Erbsünde hinterlassen.

Um es kurz zu machen: Ich musste den Raum freiwillig verlassen, weil ich nicht einverstanden damit war, die Satzung um einen gewissen Punkt zu erweitern. Dabei war ich noch nicht mal stimmberechtigtes Mitglied! Aber als sie fragten, ob denn jemand einen Einwand hätte, sich per Satzungsänderung von faschistischen Gruppierungen zu distanzieren, da konnte ich einfach nicht anders, als mich kritisch gegenüber Distanzierungen jedweder Art zu äußern. Denn wo soll das hinführen? Kaum gibt es jemanden, der offensichtlich Dummes tut, schon ist man gezwungen, in seine Satzung aufzunehmen, dass man nichts damit zu tun hat? Man ist dann hilfloses Opfer der unendlichen Fähigkeit des Menschen, doof zu sein. Ich machte ein paar ernstgemeinte Vorschläge wogegen man sich noch alles distanzieren sollte (CDU, Frankfurter Börse, die Regierung der USA), das kam aber nicht gut an und als mir das zu anstrengend wurde ging ich und überließ die Elite der heidnischen deutschen Kultur ihrer Abstimmung.

Die nächsten Stunden auch nach der Sitzung gab es kein anderes Thema als Vereinspolitik und dafür war mir meine Zeit zu schade. Diese Diskussion wurde von erwachsenen, wahlberechtigten Bürgern mit einer Verve geführt, die ihresgleichen sucht. Gelangweilt und verärgert verließ ich fluchtartig die Veranstaltung, um in meiner kleinen heilen Welt zu Hause das Frühlingsfest mit Eierrollen, Spaziergängen und einem großen Hackbraten zu begehen.

Ich denke dann doch, es war meine Schuld. Denn die Besucher dieses Treffens waren für sich ja nette, aufgeschlossene Menschen und sie wollten nichts anderes, als nur das Beste für den Verein. Dafür haben sie ein wenig abgestimmt. Und nur ich konnte das nicht mit meinem Verstand vereinbaren. Das macht mich doch zum Problem, oder?

Ich wollte nur gemeinsam mit anderen Menschen guten Willens ein wenig das Erwachen der blühenden Natur feiern und verstehe eben nicht, was eine Vereinssatzung dazu beitragen kann. Nächstes Mal halt ich mich raus, versprochen.