Es ist gut, dass wir in einer Gesellschaft leben, die niemanden absichtlich zurücklassen muss. Die vier großen Risiko-Gruppen: Alt, Arm, Krank, Behindert, die früher einfach ihrem Schicksal überlassen worden sind, können nun von der Solidargemeinschaft aufgenommen werden. Das ist für uns selbstverständlich geworden und das ist im allgemeinen auch gut so.

These: Es ist genug für alle da.

Als Frage gestellte Antithese: Darf man dem Einzelnen ohne sein Einverständnis etwas wegnehmen, um es jemand anderem zu geben?

Für uns Erwachsene ist die Antwort klar: Ja, das muss man, um des Gemeinwohl willen.

Aber Kinder und US-Amerikaner sehen das oft anders.

Sind wir ehrlich: Es bedarf schon eines robusten Glaubens an das Gemeinwohl, wenn man den oben genannten vier Gruppen im Alltag begegnet. Wer kennt es nicht:

1. Rentner an der Supermarktkasse fahren einem mit dem Wagen immer an die Hacken, weil sie es eilig haben, schnell genug aufzulegen und vor einem brauchen sie eeeewig mit dem Geldzählen. Zudem fummeln sie an unseren kleinen Kindern rum und riechen streng. Sie parken in der zweiten Reihe und auf Parkplätzen für Familien, weil sie denken, solange die Frau im Auto sitzen bleibt, gilt das nicht als Parken. Sie haben sich in der Vergangenheit Gesetze gemacht, die ihnen eine riesige Rente zusichert und empfinden NULL Unrechtsbewusstsein, dass unsere heutige Generation auf den dafür aufgebrachten Schulden hängenbleibt und selbst fast keine Rente beziehen wird.

2. Es sind (fast) immer alle Behindertenparkplätze vor dem Eingang frei, während man mit seinen kleinen Kindern im Auto ewig kurven und über den gesamten Parkplatz Schlangenlinien laufen muss, um das Ziel zu erreichen. In integrativen Klassen haben die Lehrer keine Zeit mehr, um für Ruhe zu sorgen, weil sie sich um die behinderten Kinder kümmern müssen und keinen Nerv haben, wenn die gesunden nicht von selbst spuren.

3. Auf die ALG2-Sozialhilfe-Neiddiskussion lasse ich mich gar nicht erst ein, finde es aber unfassbar, dass zwei Drittel der Richter und Verwaltungsbeamten in Deutschland ihre Zeit für diese Fälle benutzen müssen und deshalb irre Wartezeiten entstehen.

4. Achtzehnmal pro Jahr geht der Deutsche im Durchschnitt zum Arzt. Ist doch klar, dass das Gesundheitssystem kollabiert. Wir steuern dank unserer bisherigen Gratis-Behandlungen direkt in die Zweiklassengesellschaft zu, wo sich die Reichen mehr Lebensjahre leisten können werden, als die Ärmeren, die nachrechnen müssen, ob die Zusatzbehandlungen noch bezahlbar sind.

So weit so katastrophal. Wir nehmen das alles aber in Kauf, weil wir ganz bewusst nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die Regeln kennt, wer denn zu teuer geworden ist. Schon weil jeder weiss, dass es ganz schnell gehen kann, bis er ebenfalls betroffen wäre.

Kinder wissen das aber nicht zu würdigen und sind erstaunlich ehrlich und direkt. Bei ihnen fällt ganz schnell das "Unfair!"-Urteil, weil sie das große Bild noch nicht kennen. Und wenn ich beobachte, wie sie die Paralympics sehen, dann erkenne ich einen Unterschied, der mich zum Grübeln brachte.

Die olympischen Spiele sind ja offiziell ein Treffen der "Jugend der Welt", die zusammenkommen, um die Besten der Besten zu ermitteln. Jede Nation fiebert mit ihren Favoriten mit und die Sportler dienen als Rollenmodelle. Ich weiss auch noch, dass seit den Spielen in Seoul mein großer Traum war, auch einmal auf diesem Treppchen zu stehen. (Hat nicht geklappt, Grmmml...)

Bei den Spielen in London vor ein paar Wochen haben wir die diversen Sportarten mit der ganzen Familie gesehen, gejubelt, geweint und am Ende waren meine Kinder begeistert von der Idee, auch gute Bogenschützen und Schwimmer zu werden.

GANZ anders ist das jetzt bei den Paralympics. Kein gesundes Kind der Welt träumt davon, den behinderten Sportlern nachzueifern. Wenn wir in diesen Tagen zusammen die Wettbewerbe sehen, dann ist unseren Kindern der Sieger eigentlich nicht so wichtig, wie die Diskussion, wieviele Arme und Beine jeder Teilnehmer hat. Sie fragen nicht: "Wo ist unserer?", sondern sie fragen: "Was hat der denn?"
Sie sehen zwar fasziniert, aber nicht begeistert, wie ein Schwimmer ohne Arme durch das Wasser peitscht und Menschen auf Stelzen gegeneinander antreten.
Und ich glaube nicht, dass das nur bei uns so ist.

Bei aller politischen Correctness und Liebe zur Fairness, aber die Paralympics sind kein mit den Olympischen Spielen gleichzusetzender Wettbewerb, sondern unterscheiden sich durch nichts von den Jahrmärkten des vorletzten Jahrhunderts, wo behinderte Menschen in Freakshows vorgeführt wurden. Ich jedenfalls kann da ohne beklemmendes Gefühl nicht zusehen und fühle mich schon als Voyeur.

Dass es den Wettbewerb gibt, finde ich richtig und wichtig, weil sie vielen Behinderten eine Perspektive und Hoffnung gibt, aber ich fühle mich nicht wohl dabei, zuzusehen oder es die Kinder ansehen zu lassen.

Was ich mich jetzt frage (und hier ist endlich der Bogen zur Hexerei) ist, ob es bei mir daran liegt, weil wir Naturreligiösen den Glauben an die beseelte Natur ja nur eingeführt haben, um uns die Grausamkeit der Welt begreifbar zu machen.
Bis vor ein paar hundert Jahren war der Tod und Krankheit allgegenwärtig und wir wussten, dass (wie bei den Tieren auch) die Alten und Kranken von den Wölfen gefressen werden. Das war einfach so, da konnte man nichts dagegen machen.

Wir als Menschen waren viele zehntausende Jahre lang ein Teil der Natur und sehen eigentlich erst seit kurzem als Beherrscher von oben auf sie herab. Dank Kaiserschnitt, Pharmazie und Sozialwesen, etc. fühlen wir uns nicht mehr so ausgeliefert. Wie baut man so etwas in eine Naturreligion ein?
Wir sollten unsere Rituale überdenken, weil momentan komme ich mir ein wenig rückständig vor, wie die Volksfront von Judäa, die fragt, was die Römer denn eigentlich für sie gemacht haben ...