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- Veröffentlicht: 03. Dezember 2009
In Mülheim gibt es mitten in der Stadt eine Burg. Quasi direkt zwischen Stadthalle und Aldi steht da eine Festung rum, die sich selber Schloss nennt, aber heute keines Königs mehr würdig wäre.
Sie eignet sich dennoch wunderbar, um mit der Straßenbahn mal eben auf einen Mittelalter-Weihnachtsmarkt zu fahren und einen Abend lang die Lichter der Fackeln in den leuchtenden Kinderaugen glitzern zu sehen.
Wir kaufen uns Karten und stürzen ins Getümmel …
„Halt ein, Recke!“
*Nicht schon wieder …* denke ich, drehe mich herum und hebe an zu sagen: „Ich bin Kaufm…“, da sehe ich zu meiner anfänglichen Verwirrung zwei Gestalten, die ich aus Büchern kenne. Ich grinse und frage: „Nobby? Bist du das?“
Vor uns, den Burgeingang bewachend, stehen Nobby Nobbs und Seargant Colon. Der eine spindeldürr, in einem schlecht sitzenden, fast schon flatternden Kettenhemd, der andere klein und dick, dessen Gambeson sich so auswölbt, dass er ein Bier darauf abstellen könnte. Beide tragen schiefe Helme, lehnen an viel zu großen Hellebarden und machen einen nicht allzu intelligenten Gesichtsausdruck.Sie haben keine Ahnung, warum ich so anhaltend lache beim Vorbeigehen, aber es erspart mir diesmal den sonst unausweichlichen Mittelalter-Trash-Talk.
Der Burghof ist wunderschön ausgeleuchtet. Feuer allenthalben, viele Leute in Kostümen, kein Kunstlicht, es brutzelt, duftet und klingelt aus allen Ecken.
Wir teilen uns erst mal klassisch auf: Die Mädchen gehen zur Kuchen- und Metbar, die Männer zum Weihnachtsbier- und benachbartem Würstelstand. Das vom Wirt selbst und nur für die Märkte, nach altem Rezept gebraute Bier, schmeckt mir so gut, dass ich das quengelnde Männchen, das an meinem Mantel zupft, zuerst gar nicht wahrnehme. Da wir aber hier nicht nur zum Saufen sind, schlendere ich mit dem Zwerg schließlich Hand in Hand zum Waffenstand, wo er sich sogleich für die größte und schärfste Axt aus böhmischer Produktion begeistert, die ich ihm bierselig verspreche zu kaufen, sobald er größer sein wird als die Waffe selbst. Worauf er sich freut und es leider nicht vergisst. Mist.
Die Mädels kommen auch schon zu uns herüber, eine märchenhafte Krümelspur hinter sich herziehend. Es war für sie nicht schwer, uns zu finden. Sie wissen mittlerweile, dass die Jungs unserer Familie sich nur für glitzernde Dinge begeistern, die beim Herunterfallen nicht kaputt gehen können. Das schließt eine Menge der Stände hier aus.
Nachdem die Kinder sich gegenseitig ausreichend damit aufgezogen haben, was das andere alles verpasst hat, weil es mit dem falschen Elternteil unterwegs waren, bemerken sie auf einmal gemeinsam die Menschenschlange, in der viele Leute und deren Kinder anstehen.
Mit bemerkenswertem Instinkt erahnen sie, dass das bestimmt was für sie sein muss und wollen da natürlich gleich hin.
Vater: „Nein.“
Sohn: „Wiehisoho dehenn nicht?“
Vater: „Da dürfen nur Christen hin.“
Tochter: „Nur Christen?“
Mutter: „Die lernen da was. Das ist wie eine Schule.“
Sohn: „Ich will auch was lernen …“
Vater: „Das können nur Christen lernen.“
Tochter: „Och, das ist aber schade …“
Vater: „Das ist nicht schlimm, wir brauchen das nicht lernen.“
Sohn: „Wieso denn nicht?“ (Sagt er oft in letzter Zeit.)
Mutter: „Weil wir schon wissen, dass es doof ist, sich eine halbe Stunde anzustellen, um dann mit anderen Menschen zusammenzudrängeln und zuzusehen, wie schlechte Schauspieler von einem fernen, warmen Land erzählen, in dem Jungfrauen Kinder bekommen und multikulturelle Könige ein Baby mit leuchtendem Kopf in einem Stall besuchen.“
Sohn und Tochter: „Ach so.“
Ein Mann, der schon die ganze Zeit in der Schlange von einem Bein auf das andere hüpft, sieht kurz herüber und wirft mir den klassischen Blick zu, den alle Männer kennen und der sie vereint und der etwas damit zu tun hat, dass sie manchmal für ihre Familie Dinge tun, die sie normalerweise nicht mal kennen (wollen) würden.
Ich nicke ihm unauffällig zu, er nickt, anerkennend ob unserer Fähigkeiten, die Kinder zu kontrollieren, zurück und wir gehen weiter zur Märchenerzählerin.
In einem Raum, der mit Scheinwerfern beleuchtet und einem Weihnachtsbaum geschmückt ist, setzen wir uns mit anderen Eltern und deren Kindern im Kreis auf Strohballen und Decken, öffnen die dampfenden Jacken und warten auf die Veranstalterin.
Meine Tochter ruft: „Eine Hexe!“ Wir sehen alle rüber und tatsächlich kommt hinter dem Weihnachtsbaum eine Frau in mittelalterlichem Gewand hervor, die, als sie den Ruf hört, ganz empört hochfährt und sagt: „Ich bin keine Hexe, ich bin die Märchenerzählerin, das war früher ein weit verbreiteter Beruf.“ Da sagt ein anderes Kind: „Du siehst aus, wie eine Hexe.“ Sie wieder: „So haben die im Mittelalter alle ausgesehen.“ Mein Sohn schreit: „Gar nicht! Die hatten schöne Kleider an. Meine Mama hat eines.“ Jeder aufmerksame Beobachter sieht den inneren Konflikt meiner Frau, ob sie schallend lachen oder unauffällig von meinem Sohn wegrücken soll.
Zum Glück beschließt die Erzählerin, das zu überspielen und fragt: „Wisst ihr Kinder denn, was wir zu Weihnachten feiern?“ Ein Junge mit russischem Akzent ruft: „Wir feiern Gott!“ „Richtig, wir feiern, dass Gottes Sohn geboren wurde.“ Ich frage: „Ist das schon das Märchen?“ Sie blickt tadelnd in unsere Ecke und ich fühle mich wie damals in der letzten Bankreihe der Schule. „Nein, das ist echt passiert.“ Leise sage ich zu meiner Frau: „Und Schweine können fliegen.“ Das haben aber alle gehört, denn die knallrosarote Schwester des kleinen Russen ruft: „Hä? Schweine können doch gar nicht fliegen?“ Da sagt meine Frau: „Ja, genau. Eben.“
Die Leute lachen mit einer Mischung aus unangenehm berührt und belustigt, wie nur Menschen es können, deren Religion gerade angezweifelt wurde, es sie aber nicht wirklich stört, weil sie die Sache mit Gott noch nie sonderlich ernst genommen haben.
„Wollen wir ein Weihnachtslied singen?“ Die Märchentante merkt, dass das heute nicht so läuft wie immer. Und sie scheint uns die Schuld daran zu geben, wieso weiß ich auch nicht. Alle rufen: „Jaaa!“ „Ja, kennt ihr denn ein Lied?“ Keiner sagt auch nur einen Ton. „Kennt ihr ‚Stille Nacht‘?“ „Jaaa!“ „Wollen wir das singen?“ „Neeein!“ „Warum denn nicht?“ Schweigen.
Ich zeige auf. Wie damals. Beim Gedanken an meine Schulzeit muss ich lächeln, was die Erzählerin missversteht, denn sie glaubt, ich führe bestimmt wieder was im Schilde. Sie sagt: „Oh, je.“ Das nehme ich als Aufforderung zu sprechen. Denn ich bin ja ein guter Mensch. Und ich möchte, dass alle gemeinsam feiern können. Und ich weiß nur von einem konfessionslosen, bekannten Weihnachtslied.
„Kennt ihr 'Schneeflöckchen, Weißröckchen'?“ Und noch bevor das „Jaaa!“ ausklingt, heben meine Frau und ich an, zu singen und alle stimmen mit ein.
Ökumenisches Weihnachten. Geht doch.