Theoretisch kann eine Hexe alles, worauf sie sich konzentriert.

Nach der Lektüre dieses ersten Satzes hören die Junghexen meistens auf, zu denken. Sie legen das Buch weg, bestellen sich einen Superduper-Zauberstab im Online-Shop, schlagen noch einmal kurz die markierten Seiten ihres ACME-Zauberbuchs mit den Sprüchen auf und dann legen sie los: Der Stab zischt durch die Luft, die Miene des Zauberers ist an Ernsthaftigkeit nicht zu überbieten. Jeder Muskel angespannt, die Chakren gelockert, das Mantra vibriert obertönig.

Die freie Hand unterstützt den magischen Prozess in einer vor dem Spiegel einstudierten Bewegung, wie sie doch schon dem guten Gandalf auf dem Turm geholfen hat.

Die Katze sucht augenrollend das Weite, nur die etwas gelangweilte Kröte bleibt im perfekt symmetrischen Pentagramm sitzen, weil sie nicht riskieren möchte, ihre Chance zu verpassen, in einen Prinzen verwandelt zu werden. Und dann passiert es!

Das Telefon klingelt.

Ob das etwas mit dem Spruch zu tun hat? Begeistert über die Reaktion stürmt er zum Apparat. Der frisch gestärkte Hut, bei dessen Kauf nur die Energie zählte, die der Verkäufer zusagte und natürlich nicht die Tatsache, wie bescheuert jeder Träger damit aussieht, fällt achtlos zu Boden und verwischt das gute Meersalz aus dem Himalaya. Es klingelt genau dreimal. Und gerade, als unser Zauberer die Hand auf den Hörer legt, verstummt es. Ob das ein weiteres Zeichen ist?

Völlig außer Atem vor Aufregung verharrt er in der Position und lauscht ins Universum, was sich geändert haben könnte. Seine Hand zuckt zusammen, als das Telefon plötzlich doch wieder klingelt. Nervös hebt er ab und fragt mit leiser Stimme: „Ja, hallo?“

Es ist nicht der liebe Gott, auch nicht ein anderer. Kein Geist, kein Verstorbener, nur die Mutter. Nicht Mutter Natur, sondern die langweilige echte. Sie bräuchte bitte Hilfe, wegen dem Schnee, ob man denn nicht ein bisschen zur Hand gehen könne, sie schafft es nicht mehr. Und wenn sie jemand zum Pflegeheim begleiten würde, um den alten Vater zu besuchen, das wäre lieb, wo es doch so glatt draußen ist...

‚Also doch ein Dämon‘ denkt der Protagonist dieses völlig an den Haaren herbeigezogenen Märchens und sagt, er habe leider viel zu tun. Später vielleicht.

Ist das ein korrektes Verhalten für eine Hexe?

Nein?

Wenn wir uns da so sicher sind, wieso gibt es dann eine ganze Industrie, die von Menschen, die dem obigen Beispiel nacheifern, lebt?

Wieso gibt es dann solche Dialoge, die ich vor ein paar Jahren auf einem Forum führen musste:

Velvet Princess Frage: Ist Telekinese möglich?

(Ich lasse alle Beiträge dazwischen raus, die behaupten, dass das natürlich funktionieren muss, das sei doch logisch und man habe das auch mal gesehen, etc.)

Raphael Antwort: Nein.
Velvet Princess Woher weißt Du das?
Raphael Glaube es mir einfach.
Velvet Princess Aber die anderen sagen doch, dass es geht.
Raphael Nein, die sagen, sie glauben, es könnte funktionieren, aber keiner von Ihnen kann es oder kennt einen, der es kann.
Velvet Princess Ich hätte aber so gerne, dass ich es kann. Kennst Du jemanden, der mir da weiterhelfen kann?
Raphael NEIN!
Velvet Princess Warum bist Du so unfreundlich?
Raphael Warum bist Du so dumm?

Danach konnte ich mich aus ir-gend-ei-nem Grunde nicht mehr einloggen.

Meine näheste Erfahrung mit Zauberei mache ich regelmäßig, wenn ich von irgendwo hoch runtergucke. Ich bin einer der höhenängstlichsten Menschen überhaupt. Um genau zu sein, wurde das stärker, je mehr ich mich mit Magie beschäftigt habe. Und erstaunlicherweise habe ich viele Menschen mit ähnlichem Phänomen kennen gelernt und wir alle haben gemeinsam, dass wir in unseren Träumen oft schweben oder fliegen.

Und hier kommt nun meine gewagte Theorie, die keinen Anspruch auf Richtigkeit in sich trägt und nur eine Verkettung von Denkanstößen ist:


Annahme: Wir Menschen könnten Zustände mit Hilfe von reiner Gedankenkraft verändern, also zaubern.
Fakt: Ich (und ich bin mir sehr sicher, auch kein anderer) war noch nie Zeuge echter Zauberei.
Schlussfolgerung: Irgendetwas hält uns davon ab, zu zaubern.


Annahme: Es wäre für die Menschheit verheerend, wenn wir zaubern könnten. An jeder Ecke würde es zisch-päng-bumm machen, niemand wäre vor den anderen sicher, die Kakophonie von Gedankenübertragungen und die Farbenflashs jeder Aura, Gegenstände und Menschen würden durch die Luft sausen. Chaos pur.
Fakt: Der Mensch, seine Psyche und das Zusammenleben auf diesem Planeten ist ein zerbrechliches Konstrukt. Schon heute ist unser Sinnessystem beschäftigt, 80% aller Eindrücke zu verstecken, damit unser steinzeitliches Gehirn nicht überfordert ist. Mehr Stress wäre verheerend.
Schlussfolgerung: Wer oder was auch immer uns daran hindert, es ist sehr gut so.


Und jetzt noch für die Träumer:

Annahme: Vielleicht gibt es ja besonders begabte Menschen unter uns, die die Barriere durchbrechen können?
Fakt: Kann man logischerweise nicht ausschließen.
Schlussfolgerung: Wenn es solchermaßen begabte Menschen gibt, dann sind sie noch nie öffentlich aufgetreten und es bleiben drei Möglichkeiten, wieso:

  1. Sie merken es ihr Leben lang nicht und sterben sorglos.
  2. Sie versuchen, es zu aktivieren und scheitern, weil es nicht machbar ist.
  3. Sie versuchen, es zu aktivieren und merken während des Weges, dass das keine gute Idee ist und lassen es bleiben.

Jedes Mal wenn ich z.B. auf einer hohen Leiter stehe, sagt eine kleine fiese Stimme zu mir: „Dir kann nichts passieren, Du kannst doch fliegen“ … aber dann übertönt die andere Stimme die erste: „Wenn Du runterfällst, stirbst Du!“ Und weil ich noch nie geflogen bin, aber schon oft die Schmerzfolgen plötzlich einsetzender Schwerkraft gespürt habe, lasse ich es bleiben.

Die Frage, die sich nun stellt: Wer spricht da zu mir?