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- Veröffentlicht: 16. April 2009
In jeder größeren deutschen Stadt gibt es regelmäßig sogenannte Hexenstammtische.
Dort trifft sich monatlich so manches, das sich unter Hexen, Heiden, Pagans, Naturreligiöse etcpp zusammenfassen lassen will. Meistens findet das statt in einem separaten Raum einer Gaststätte. Bevor ich einen neuen Stammtisch besuche (ich wechsele ziemlich häufig den Wohnort) mache ich mir den Spaß und setze mich eine halbe Stunde zu früh an die Theke und beobachte die Ankömmlinge unauffällig.
Um in das Separée zu kommen, müssen die Teilnehmer des Treffens durch den Gastraum, an den anderen Gästen vorbei und den Wirt fragen, wenn sie unsicher sind. Letzteres geschieht flüsternd, denn der heitere Stahlarbeiter neben dem Wirt, der sich am Bier festklammert, muss ja nicht unbedingt erfahren, dass man hier einen Hexenstammtisch sucht. Das läuft im Einzelnen so:Newbie (in schwarzem Leder, mit fettem silbernen Pentagramm, damit man auch ja nicht glaubt, er sei hier zum Kegeln, fasst sich Mut und sagt freundlich): „Guten Abend.“
Wirt (weiss natürlich, worum es geht, aber verkneift sich ein Lachen, weil er absehen kann, dass das jetzt lustig wird): „Guten Abend junger Mann.“
(Der Stahlarbeiter grinst besoffen rüber)
Newbie: „Ich habe gehört, hier gibt es ein Treffen.“
Wirt: „Das ist eine Kneipe, wer sich nicht treffen möchte, kommt nicht hierher.“
(Stahlarbeiter kichert)
Newbie: „Ich meine den Stammtisch, ich habe gehört, der soll hier sein.“
Wirt: „Stammtische haben wir viele. Um welchen geht es denn?“
Newbie (merkt, dass das schwierig wird, fasst sich aber Mut): „Den Hexenstammtisch.“
Wirt: „Hexen? Gibt’s die wirklich?“
(Stahlarbeiter bereitet einen Witz über fliegende Besen vor)
Newbie: „Nein, es geht mehr um Naturreligion. Wir …“
Wirt (unterbricht schnell, denn diesen Sermon hat er schon zu oft gehört): „War nur Spaß, die sind da hinten.“ Er deutet zum nicht übersehbaren Hinterzimmer, wo in der Zwischenzeit schon die Organisatoren eingetroffen sind und eifrig zur Bar hin winken.
Der Neue verfängt sich mit dem Stahlarbeiter noch in einem Diskurs über die tatsächliche Flugfähigkeit gebräuchlicher Reinigungswerkzeuge. Das bekomme ich aber nicht mehr mit, weil ich mich der Runde hinten vorstellen möchte. Ich gehe hin und rufe laut: „Hallo, seid ihr ein Stammtisch?“
Das Eis ist gebrochen und man kann sich einen Platz in der Runde suchen. Schon während dem ersten Bier kommt die (aus irgendeinem Grunde fast immer weibliche und dicke) Organisatorin zu mir und stellt drei Fragen in exakt dieser Reihenfolge:
1. Wie heißt Du?
Dies stellt viele Hexen vor ein schier unlösbares Problem und wenn man hierauf nicht vorbereitet war, dann kann es nun sehr unangenehm werden: Nennt man Pseudonym oder echten Namen?
Der Hintergrund ist folgender: Wenn wir zu uns ehrlich sind sein würden, so müssten wir gestehen, dass der Großteil der heidnischen Aktivitäten im Internet stattfinden. Wenn die eifrigen Hexlein nur halb so viel Energie und Geld in echte Projekte stecken würden, dann wären wir sicher die aktivsten Tendenzler in Deutschland. Die Anonymität des Netzes verleitet dazu, sich attraktiver, klüger und geheimnisvoller zu geben. Das rächt sich dann, wenn man den „Baldur Adlerblut, Wächter des Weltenbaums“ in echt sieht und das ist ein kleines Männchen im Trainingsanzug, mit Brille, Glatze, schiefem Grinsen und einem Sprachfehler. Oder wenn sich die kleine von Selbstzweifeln geplagte Agnes umbenennt in „Perdita X“, die von allen „die wo sich Perditax nennt“ beschrieben wird.
Ich plädiere schon seit Jahren dafür, immer nur die Hexennamen zu verwenden, der ja ruhig der eigene sein kann. Entweder man steht dazu und hat einen Namen für sich gefunden, oder eben nicht.
Der von mir beobachtete Workaround um diesen Konflikt ist folgender Satz: „Im Forum bin ich Lady Pusteblume, aber nennt mich ruhig Jaqueline-Chantal oder Jackie“.
Achtet mal drauf, das kommt immer so in der Art.
2. Wie bist Du auf uns gekommen?
95% der Antworten: „Im Internet gefunden.“
3. Was bist Du?
Wer mich einschätzen kann, der weiß, wie sehr ich mich auf diese Frage freue. Zu diesem Zeitpunkt ist mein Kopf voller blöder Antworten und ein paar coolen. Da ich den Leuten aber noch ein bisschen Zeit geben möchte, sich in mir zu täuschen, sage ich zumeist: „Eine Heckenhexe.“ Daraus ergibt sich dann der Dialog, dass Hexen doch weiblich wären, was ich verneine, und schon unterhält man sich.
Ein Stammtisch dauert zwei bis drei Bier lang. Mittendrin wird Essen bestellt und gebracht, als wäre nicht schon genug Gewusel drumherum.
Man unterhält sich in strikten 4-6er Gruppen. Mehr ist nicht möglich, denn wenn einer spricht, dann sitzen an einem Standardtisch links und rechts von ihm einer und gegenüber drei. Diejenigen weiter weg können nichts hören, weil in ihrem Einzugsbereich ja auch jemand (laut) spricht.
Immer wieder wird die Absicht geäußert, sich gemeinsam über ein zB vorbereitetes Thema zu unterhalten, aber das wird nie funktionieren, weil die gemeine Hexe lieber redet als zuhört. Sie ist ja Hexe geworden, weil sie mitbekommen hat, dass sie erstens tun kann, was sie will und zweitens um ihr bisheriges tristes Leben hinter sich zu lassen. Damit haben wir auch die Gesprächsthemen vollständig aufgezählt: Tun können, was man will und das eigene Elend. Es gibt wenige Hexen ohne einen Leidensweg, das bringt die Job-Description wohl mit sich. Einerseits lausche ich gerne einer leidenschaftlich vorgetragenen Soap-Opera, die das Leben schrieb, aber jammern habe ich noch nie gemocht. Das lenkt ab vom Wesentlichen.
Apropos ablenken: Was einfach ganz schrecklich stört, ist, dass viele Hexen, die zu Stammtischen gehen, Zigaretten rauchen. Die Klamotten stinken danach, das Essen schmeckt bäh, der Rauch beisst, die Kinder kann man nicht mitnehmen und so weiter, ihr kennt die Gründe. Eine Zeitlang hatte ich mich darauf gefreut, dass das durch die gesetzliche Regelung entfallen würde, aber da hat die unselige deutsche Raucherschutzregelung ja einen Strich durch die Rechnung gemacht. Denn tatsächlich kam ich in diesen Tagen zu einem Stammtisch, auf den ich mich schon gefreut hatte, weil ich ein paar der Leute kannte und wurde ins Raucherzimmer geleitet. Ich stand kurz baff davor, ungläubig gegenüber dem, was sich hier abspielt.
Ein Hexenstammtisch in einem Raucherzimmer ist wie eine Papstaudienz im Swingerclub! Das geht nicht! Ich hatte noch kurz gefragt, ob ich hier richtig sei, ich konnte es einfach nicht glauben, da saßen die da rum, diskutierten eifrig darüber, wie integer sie als Hexen seien und wie wichtig der Grundsatz sei, niemandem zu schaden und da liegt vor denen eine Schachtel wo fett drauf steht: „… fügt Ihnen und den Menschen Ihrer Umgebung erhebliche Schäden zu.“ Und die denken sich nix! Wie geht das? Ich habe kein Problem, wenn Menschen sich selbst drogenbedingt verletzen, aber doch nicht andere. Und erst recht nicht als Hexe. Aber wenn ich darauf hinweise, dann fühlen die sich nicht angesprochen, das erreicht die jeweilige Realitätsebene nicht.
Anspruch und Wirklichkeit. Daran müssen wir noch arbeiten. Dringend, sonst stehen wir doch da wie die letzten Heuchler. Wer von anderen erwartet, dass sie sich an Regeln halten (um des religiösen oder sozialen Wohls willen), der muss sich auch selber daran halten. Kaum zu glauben, dass man das extra erwähnen muss…
Disclaimer: Ich war in meinem Leben sowohl als Stahlarbeiter, als auch im eigenen Elend badender Raucher unterwegs, ich sympatisiere folglich mit diesen Typen, aber als Rekonvaleszent stehe ich dem kritisch gegenüber.
(No PC was harmed while making this entry, really.)