Vom Kindergarten bis zu unserer Heimstatt ist es nur ein kleiner Fußmarsch. Mit träumenden Kindern dauert er eine halbe Stunde, ohne nur zehn Minuten. Mittlerweile sind die Kleinen auch endlich so weit, dass man sie nicht immer erst mühsam überzeugen, bestechen und oder abmahnen und dann ohnehin tragen muss, sondern sie laufen ganz brav. Mit längeren Beinen geht das ja auch immer leichter, das sehe ich ein.

Während des langen Marsches winken wir den anderen Kindern, die von ihren Eltern natürlich jedes Mal chauffiert werden und bedauern diese, weil sie offensichtlich zu schwach oder im Stress sind, um dieselbe Strecke wie wir zu Fuß zurück zu legen. (Leider muss ich langsam aufhören, mir zynische Bemerkungen über das Verhalten anderer Eltern zu erlauben, denn meine Kinder erzählen ihren Freunden gerne so etwas wie zB: „Wieso wollen Deine Eltern eigentlich sterben?“, wenn ich meinem Nachwuchs die Wirkung von Zigaretten erklärt habe.)

Nun, jedenfalls am Ende unseres Weges, kurz bevor wir in die Zielgerade einbiegen, liegt eine kleine Pizzeria. Eine echte italienische. Mit einem kleinen, stillen, grauhaarigen Italiener am Steinofen und seiner stämmigen fröhlichen Frau hinten in der Küche. Auf dem Fenster steht kleingeschrieben: „Echte Pizza gibt es nur vom Italiener, alles andere ist Kopie!“ und das ist vollkommen richtig. Auch wenn ich sagen muss, dass die Pizzabrötchen von der türkischen Pizzeria zwei Häuser weiter besser sind, aber wenn er sich auch hartnäckig weigert, meine Verbesserungsvorschläge anzunehmen, ist er selbst schuld. Seine Pizza jedenfalls ist köstlich.

Wenn ich Lust habe und die Kinder ganz brav waren (oder umgekehrt), dann kehren wir da ein. Was das Bestellen schwer macht, ist der Umstand, dass keines der Kinder Salami und Schinken gleich mag, sondern nur immer entweder das eine oder das andere. Deshalb bedeckt unser Teigfladenkoch immer die eine Hälfte so und die andere so. Das darf er aber nicht unbeobachtet, denn meine Sprösslinge haben einmal eine falsche Wurstscheibe auf ihrer jeweiligen Hälfte gehabt und dann die Annahme verweigert. Seitdem stehen die immer sehr aufmerksam an der Theke und kommentieren alles, was er macht. Da sie noch klein und niedlich sind, lässt er sich das gerne gefallen, solange sie mit ihren Fingerchen nicht auf die Arbeitsfläche greifen.

Auszüge aus zehn Minuten Dauergeplapper:
„Ist das der Teig?“
„Boah, ist der groß!“
„Wieso wirfst Du den hoch?“
„Sind das die Tomaten?“
„Ich mag keine Tomaten!“
„Doch die magst du. Ist doch Pizza.“
„Ach so.“
„Jetzt kommt die Salami!“
„Ich will aber Schinken!“
„Nein, die Salami zuerst!“
„Hast Du den Käse vergessen?“
„Was sind das für Kräuter?“
„Ich mag keine Kräuter!“
„Das sind doch Gewürze!“
„Ich mag keine Gewürze!“
„Dooohoch. Pizza muss Gewürze drauf haben.“
„Ach so.“
„Das sind Pizzagewürze.“
„Wieso tust Du die auf das Blech?“
„Schiebst Du die jetzt in den Ofen?“
„Ist der heiß?“
„Klar ist der heiß!“
„Ich habe Angst!“
„Machst Du jetzt sauber?“
„Sag mal ‚Schneiiden?‘!“
„Ist die Pizza jetzt fertig?“
„Ist die Pizza jetzt endlich fertig?“
„Aber jetzt!“
„Schau doch noch einmal nach!“
„Warum schaust Du immer nach?“
„Fertig Papa!“
„Ich will tragen!“

Das erträgt unser hochgeschätzter Gastarbeiter schweigend und mit einem Dauergrinsen auf dem Gesicht, obwohl er bestimmt froh ist, wenn wir endlich die Tür von außen schließen. Die Kinder brüllen noch „Tschüss!“ zum Abschied, er brüllt „Ciao!“ zurück, ich renne traditionsgemäß nachher noch einmal Retour, weil ich immer irgendeine Mütze, Handschuh oder Jacke vergessen habe und bis wir zu Hause sind, ist die Pizza verzehrfertig temperiert.

Was mir gestern zum ersten Mal aufgefallen ist, war, dass mein Nachwuchs anscheinend noch nicht den Unterschied zwischen formellem und informellem Deutsch kennt. Da habe ich nachgedacht und mir ist klar geworden, dass sie das auch noch nie gehört haben. Die Erzieher werden mit Vornamen und „Du“ angeredet, unsere Freunde und Eltern natürlich auch, bei Behördengängen sind sie nie dabei, auf der Arbeit habe ich allen ganz schnell die formelle Sprache abgewöhnt, weil ich damit im Alltag nicht gut umgehen kann will, bei Ritualen und Stammtischen ist man eh gleich auf Kumpelniveau und obendrein ist es mittlerweile anscheinend sogar üblich, dass sich die Eltern der anderen Kinder auch selbstverständlich duzen.
Und währenddessen hat mich eine (ganz kleine) Panik überfallen. Was machen wir, wenn die das nie lernen und irgendwann kommen sie in die Schule und können nur halbes Deutsch? Auch als mein Sohn beim Zahnarzt zur Routineuntersuchung war und dieser zur Auflockerung fragte: „Wie heißt Du denn?“, da sagte der rotzfrech: „Du kennst mich doch schon!“.

Ich sehe da erstmals eine kleine Lücke in unserem bisher vermeintlich nahtlosem Erziehungssystem. Auch wenn ich persönlich finde, dass Menschen, die darauf bestehen, gesiezt zu werden, weil sie behaupten, nur das würde den formellen Abstand zwischen den Hierarchien aufrechterhalten, für rückgratlose und inkompetente Würmer halte, die sich ihre Unfähigkeit, Respekt selber zu erarbeiten durch ein überflüssiges und überholtes rhetorisches Konstrukt erschleichen wollen, so sollten unsere Kinder dennoch generell in der Lage sein, dieses Konzept zu beherrschen. Aber vielleicht haben wir Glück und bis es so weit ist, hat die Welt am englischen Beispiel gelernt, dass es auch problemlos anders geht. Mal sehen.